Der blinde Passagier

Susanne, beeil dich! Verabschiede dich von dem Tier und komm endlich! Du weißt, wir können in unserer Etagenwohnung keine Katze gebrauchen. Das Taxi wird gleich da sein. Nun mach schon!

Marie wirft einen prüfenden Blick auf ihre Tochter, die unaufhörlich das weiche schwarze Fell des kleinen Stubentigers streichelt. Die große Sporttasche, in der Susannes Turnschuhe ihren Platz haben, deckt das Katzenkind beinahe zu.

Ein besonnenes Lächeln huscht über Maries Gesicht. Erinnerungen an ihre eigene Kindheit werden wieder wach.

Ihre Eltern besaßen ein großes Haus mit einem weitläufigen Garten. Ein großer Schäferhund hatte das Grundstück bewacht. Cäsar! Er war Maries bester Freund in ihren Kindertagen gewesen, in guten wie in schlechten Zeiten. Oft hatte sie sich unverstanden gefühlt und bei dem Tier Trost und Zuflucht gesucht. Als Cäsar dann von einem Auto angefahren wurde, waren seine Verletzungen sehr schwer gewesen. Der Tierarzt hatte ihn nur noch einschläfern können.

Auch Susanne ist sehr tierlieb. Sie versteht es, mit Tieren umzugehen. Dennoch erlauben es die beengten Wohnverhältnisse nicht, ein Haustier zu halten. Für einen Hund oder eine Katze fehlt einfach der Auslauf.

Ich hole mir eben da vorne an dem Kiosk eine Zeitschrift, Susanne, hörst du? Bleib hier und warte auf mich, ich bin sofort wieder zurück!

Susanne nickt stumm, ohne sich nach der Mutter umzusehen. Mit Tränen in den Augen schaut sie auf das Fellknäuel vor sich.

Dann hat sie eine brillante Idee.

Blitzschnell zurrt sie den Reißverschluss ihrer Umhängetasche auf, packt den Vierbeiner am Genick und steckt ihn kurzerhand in den Sportbeutel. Das Tierchen macht kläglich  mi-mi-, als es in den dunklen Behälter gesetzt wird.

Pst, pst! macht Susanne und legt den Zeigefinger auf ihre Lippen. Du darfst jetzt eine halbe Stunde dein Schnäuzchen nicht aufmachen, du kleine Miezekatze. Dafür schläfst du dann heute Abend mit mir zusammen in meinem Zimmer. Wenn du einmal da bist, wirft meine Mami dich nicht wieder heraus. Ich kenne sie dafür lange genug. Dann sind wir für immer zusammen. Hörst du?

Tatsächlich verstummt das leise miauen. Susanne zieht den Reißverschluss bis auf einen kleinen Spalt zu, damit die Katze noch Luft bekommt, und hängt sich die Tasche vorsichtig um die Schulter.

Susanne, nun komm! hört sie die Stimme ihrer Mutter, die mit eiligen Schritten, eine Zeitung in der Hand haltend, auf sie zu kommt.

Susanne schluckt und wischt sich mit dem Handrücken über die Augen. Sie bemüht sich ernsthaft, einen möglichst traurigen Eindruck bei Marie zu hinterlassen.

Mit hängenden Schultern steht sie neben der Mutter und blickt zu Boden.

Marie umarmt sie tröstend.

Du bekommst einen Kanarienvogel, einen gelben. Den wolltest du doch so gerne haben. Weißt du was? Gleich morgen gehen wir beide in die Zoohandlung und suchen einen schönen Vogel aus. Das Tier weckt dich dann jeden morgen mit seinem Gesang auf. Was hältst du davon?

Susanne zuckt bei der Berührung ihrer Mutter zusammen. Angst, das Kätzchen in ihrer Umhängetasche könnte sich melden, steigt in ihr hoch. Doch alles bleibt ruhig.

Sie sieht ihre Mutter verstohlen von der Seite her an und antwortet mit einem leisen hm.

Marie lacht. Du bist mir vielleicht eine, nervst mich seit Tagen mit deinem Wunsch, ein Haustier anzuschaffen. Es muss doch nicht unbedingt eine Katze sein, Susanne. Du musst verstehen, es ist eine Quälerei für so ein freiheitsliebendes Tier immer nur in einer kleinen Wohnung eingeschlossen zu sein. Es geht nicht, hörst du?"

Ja, Mami. Susanne schluckt. Sie wirft einen prüfenden Blick auf ihre Tasche. Zum Glück ist das Katzenkind noch so klein, denkt sie. Nirgendwo zeigt sich ein verräterische Beule.

Erleichtert atmet Susanne durch. Ging leichter, als ich dachte, geht es ihr durch den Kopf. Jetzt kann ja nichts mehr daneben gehen.

Während der Taxifahrt ist Susanne bemüht, die Tasche so wenig Erschütterungen wie eben möglich auszusetzen. Sie hofft sehnlichst, dass der blinde Passagier ein längeres Schläfchen macht, damit er unbemerkt bleibt. Diesen Wunsch erfüllt er Susanne, doch ein anderes Malheur bringt sie in größte Not.

Während ihre Mutter vor ihr sitzt und sich mit dem Fahrer unterhält, entdeckt Susanne plötzlich einen dunklen feuchten Fleck am Boden ihrer Sporttasche.

Der Schreck fährt ihr durch die Glieder. Was ist das denn? Bewegungslos starrt sie auf die Nassstelle.

Das darf nicht wahr sein! Susanne wird es gleichzeitig heiß und kalt. Was sollte sie jetzt machen?

Die kleine Pussy hat vermutlich vor Angst ein Bächlein gemacht.

Was sage ich meiner Mutter, wenn sie das sieht? Susanne überlegt krampfhaft. Dann hellt sich ihr Gesicht auf.

Ich werde einfach behaupten, mir sei ein Saftpäckchen ausgelaufen. Das muss sie mir glauben.

Behutsam legt Susanne ihre Hände auf die Stelle der Tasche, wo sie den kleinen Kerl vermutet. Vorsichtig schaut sie in den geöffneten Spalt des Beutels. Sie will gerade den Reißverschluss ein wenig weiter aufziehen, um besser sehen zu können, als sich eine kleine dünne Pelzpfote auf ihren Finger legt.

Susanne kann im letzten Moment einen erstaunten Aufschrei unterdrücken. Mit sanfter Gewalt schiebt sie das Pelztier zurück und vernimmt ein wimmerndes  mi mi. Dann ist wieder Ruhe.

 

Ihr stockt der Atem, als ihre Mutter sich zu ihr umdreht.

Susanne? Was machst du denn da hinter mir? Was war das denn da für ein Geräusch? Och nichts! Ich habe nur laut gedacht! Die kleine Katze von eben machte so, als ich mich von ihr verabschiedete. So ganz leise  mi-mi!

Das kannst du aber täuschend echt nachahmen! Für einen Augenblick hatte ich den verrückten Gedanken, du hättest das Tier mit ins Auto gebracht! Susanne?

Ja, Mami?

Du hörst jetzt aber bitte auf damit, ja?

Ja!

Susanne beißt sich auf die Unterlippe. Wie wird Mami reagieren, wenn sie die Katze zu Hause entdeckt? Ich hätte sie besser nicht mit genommen!

Zweifel machen sich breit. Susanne fühlt sich recht unbehaglich. Sie will ihre Mutter nicht anlügen, aber andererseits ... Sie möchte unbedingt einen Stubentiger haben.

Während Susanne noch ihren Gedanken nachhängt, hält das Taxi bereits vor ihrer Wohnung.

Susanne schwitzt Blut und Wasser. Hoffentlich meldet sich der Pelzgeselle nicht wieder im ungünstigsten Moment. Doch alles geht gut.

Die Mutter scheint den Vorfall im Taxi schon vergessen zu haben.

Sie betreten die Wohnung und Susanne geht gleich in ihr Zimmer und legt die Tasche sorgfältig auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch.

Die Mutter ist ihr gefolgt, um Susanne zu sagen, dass sie gleich zum Abendessen kommen soll, als ihr Blick mehr zufällig auf den Sportbeutel fällt. Die feuchte Fläche ist deutlich zu sehen.

Susanne, was ist denn da in deiner Tasche ausgelaufen? Sieh mal! Was ist das denn?

Ach, ich weiß! Nicht so schlimm! Ein Saftpäckchen!

Ein Saftpäckchen? Du hast doch gar kein Saftpäckchen bei dir gehabt?

Nein, es ist von Uli! Sie hatte es mir geschenkt, weil ich Durst hatte. Ich habe es dann in meine Tasche gepackt. Aber es war wohl anscheinend noch nicht völlig leer. Ich wasche die Stelle gleich sauber.

Na gut! Marie dreht sich um und schließt die Tür.

Susanne lehnt sich schwer gegen ihren Schrank.

Das war knapp. Aber ich habe es geschafft. Jetzt muss ich mir schnell überlegen, wo ich der Katze ein kleines Lager zurecht mache.

Sie sieht sich um. Dann bleibt ihr Blick an einem kleinen Plastikkistchen hängen.

Susanne stellt das Kistchen in eine Ecke neben der Heizung und legt es provisorisch mit Papier aus. Dann öffnet sie schnell den Reißverschluss ihres Sportbeutels, greift sich die kleine Katze und setzt sie in die Kiste. Das Tier sieht sie mit runden Augen an und miaut leise. Susanne streichelt es und allmählich fasst die Katze Vertrauen. Nach kurzer Zeit schnurrt sie bereits und lässt sich von ihrem Menschen kraulen.

Susanne strahlt. So hatte sie es sich immer gewünscht. Aber das Tier braucht Futter und Milch. Wo bekommt sie das her? Milch gibt es im Kühlschrank. Aber Futter?

Ich werde ihr zunächst etwas Wasser zu saufen geben, beschließt Susanne.

Sie öffnet ihre Zimmertür leise und horcht hinaus auf die Diele. Ihre Mutter ist in der Küche mit dem Abendessen beschäftigt.

Susanne schaut kurz in die Kiste, in der das Kätzchen sich zusammen gerollt hat und bereits wieder schläft.

Sie schnappt sich ihre Tasche und eilt ins Badezimmer, um die Spuren ihres neuen Mitbewohners zu beseitigen. Dann füllt sie ein wenig lauwarmes Wasser in ein Schüsselchen und huscht wieder in ihr Zimmer. Sie hat soeben das Wasserschälchen abgesetzt, als ihre Mutter sie zum Essen ruft.

Ich komme! Susanne streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Das wäre geschafft.

Willkommen zu Hause, kleiner Vierbeiner! Mit einem Lächeln verlässt sie ihr Zimmer.

Nach dem Abendessen erzählt Susanne Marie, sie müsse sich noch für eine Klassenarbeit, die am nächsten Tag geschrieben würde, vorbereiten.

Aber bleib nicht zu lange auf, Susanne! Du bist sonst morgenfrüh nicht ausgeschlafen!

Ja, ja! Alles klar, Mami!

Susanne kann es kaum erwarten, wieder zu ihrem Tier zu kommen.

Spornstreichs geht sie auf die Kiste zu. Doch die Kiste ist leer! Entsetzt sucht Susanne das Tier. Dann entdeckt sie es schließlich auf dem kleinen Schaffell vor ihrem Bett. Hier ist es schön weich und warm. Susanne beugt sich herunter und hebt den kleinen Kerl hoch.

Hier kannst du leider nicht liegen bleiben. Mami würde dich sofort erblicken und dann ...

oh je ....!

Susanne geht an ihren Schrank und nimmt einen alten Wollpullover heraus, den sie schon im letzten Winter nicht mehr getragen hatte. Sie legt ihn sorgfältig in den Plastikkasten und setzt das Kätzchen obendrauf.

Wieder miaut das Tier. Susanne nimmt es auf den Arm und setzt es vor den Wassernapf. Tatsächlich schleckt es ein wenig Wasser und tappst anschließend durchs Zimmer, wo es sich erneut auf dem Schaffell ausstreckt.

Susanne hebt lächelnd den Zeigefinger. Nein, mein Freund. Da legst du dich besser nicht drauf. Hier kannst du fein schlafen. Sie packt sich die Katze und setzt sie erneut in das Kistchen.

Eine längere Zeit streichelt sie das Tierchen, bis es wieder leise schnurrend einschläft.

Als Susanne ins Bett geht, schläft die Katze friedlich. Glücklich schließt Susanne die Augen.

Am nächsten Morgen um 6.15 Uhr wird sie durch das schrille Läuten ihres Weckers aus dem Schlaf gerissen. Fast gleichzeitig steht ihre Mutter in der Tür, um sie zu wecken. Schwacher Lichtschein fällt von der Diele her in Susannes Zimmer. Sie schaltet die Nachttischlampe ein, um festzustellen, wie spät es ist.

Susanne, aufst .... Was ist das denn da vor deinem Bett?

Marie tritt ins Zimmer und schaut entgeistert auf das Schaffell.

Auf dem hellen Fell liegt ein dunkles Fellknäuel, das Marie irgendwie bekannt vorkommt.

Sie weiß nicht, ob sie lachen oder mit Susanne schimpfen soll.

Mami, beginnt Susanne stockend. Ich ....

Ich habe es geahnt. Susanne, du machst mir nichts vor. Die Geräusche gestern im Taxi haben mich schon stutzig gemacht und hinterher hier zu Hause die Geschichte mit dem Saftpäckchen. Kam mir alles ein wenig eigenartig vor. Aber sag mal, wie stellst du dir das denn vor? Ich habe dir doch die Gründe ausreichend genug erklärt, warum wir keine Katze haben können!

Ich weiß! Aber sie ist so süß, Mami. Und so lieb!

Ja, ja! Und deine Tasche hat sie auch schon voll gep..... Ach, Susanne, wir werden sie nachher in ein Tierheim bringen müssen!

Nein, bitte nicht, Mami! Susanne schluchzt laut und sieht Marie mit tränenüberströmten Gesicht an. Bitte, bitte, ich kümmere mich um sie, andere Leute haben doch auch Katzen in ihrer Etagenwohnung!

Susanne, du kennst meine Meinung! Es geht nicht! Du hast doch wohl nicht geglaubt, mich mit dieser List überreden zu können? Oder doch? Susanne! Susanne!

Durch das laute Gespräch wird das Kätzchen wach und richtet seine kleinen runden Augen erstaunt auf die beiden heftig diskutierenden Wesen, die seinen Schlaf so empfindlich stören.

Marie betrachtet aufmerksam das kleine Kerlchen, wie es sich auf seine dünnen Beinchen rappelt und durchs Zimmer tappst, hin zu seinem Wassernapf.

Fasziniert sehen Mutter und Tochter dem kleinen Wesen zu. Susanne beobachtet, wie sich ein kleines Lächeln auf Maries Gesicht zeigt. Sie weiß, was das bedeutet. Sie kennt ihre Mutter sehr gut! 

Mami! Susanne springt aus dem Bett und umarmt ihre Mutter heftig.

Ich habe noch nichts gesagt, Susanne! Du bist dir hoffentlich über die Probleme bewusst, die so ein vierbeiniger Hausbewohner mit sich bringt. Wenn ich mich wirklich entschließe, ja, zu sagen, erwarte ich natürlich von dir, dass du dich in jeder Beziehung um deinen neuen Freund kümmerst!

Mach ich, Mami! Mach ich ganz bestimmt. Ich kaufe von meinem Taschengeld einen schönen Korb und bezahle auch die Tierarztrechnungen. Sie macht auch sicher nichts schmutzig. Sie bekommt eine Katzentoilette, die ich mehrmals täglich säubere. Dann riechst du überhaupt nichts!

Also gut! Das Tier ist einmal hier. Wir versuchen es. Aber wenn es Schwierigkeiten gibt, dann müssen wir eine andere Lösung finden! Einverstanden?

Ja, einverstanden. Micky wird keine Schwierigkeiten machen. Ich verspreche es!

Micky? So, einen Namen hat sie also auch schon. Das hast du dir ja alles fein ausgedacht.

Aber jetzt ab in die Schule, die darf durch unseren neuen Mitmieter nicht vernachlässigt werden!

Mami, du bist die Beste. Bin schon unterwegs. Singend rennt Susanne ins Badezimmer.

Marie schüttelt den Kopf und schmunzelt. Was habe ich doch für eine raffinierte Tochter!

Schmuggelt das Kätzchen in ihrer Sporttasche in die Wohnung.

Marie seufzt. Dann geht sie in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten.

Aber etwas Gutes hat die Sache schon, denkt sie. Susanne lernt so auf diese Art und Weise Verantwortung für einen anderen, und sei es für ein Haustier, zu übernehmen.

 

© Helga Salfer